Musik-Telegramm 1971


Der Traum einer 19-jährigen Schülerin wurde wahr:

 

Sie schrieb ein Lied für Udo Jürgens

 

Ein Jahr und acht Monate lang schlummerte das Lied einer kleinen Schülerin in der Schreibtisch-Schublade eines grossen Sängers. Nur ein Rundfunkfachmann und der Sänger kannten es. In 14 Tagen werden es Millionen kennen.

 

Das Lied: "Wer hat meine Zeit gefunden?" Die Schülerin: Brigitte Gerwens  aus dem 11.936-Seelendorf Epe an der holländischen Grenze. Der Sänger: Udo Jürgens.

 

Udo: "Es war im Januar 1970. In einer Pause zur Sendung "Musikbox" beim WDR in Köln entdeckte ich zufällig in einem Aktenkorb verschiedene Schlagertexte. Ein Lied fiel mir sofort auf. Es erzählt die Geschichte eines Mädchens, das nach der verlorenen Zeit sucht - in alten Truhen, Schubladen und Schränken".

 

Der Schlagerstar: "Ich wusste sofort, dass dieser Song auf meiner nächsten Langspielplatte dabei sein wird".

 

Das Mädchen, das den Text schrieb: " Udo Jürgens rief mich damals an und versprach, die Musik zu machen. Aber dann hörte ich über ein Jahr lang nichts mehr von ihm - bis er mir plötzlich vor drei Monaten ein Flugticket mit einer Einladung schickte. In München spielte er mir dann auf dem Klavier seine Melodie zu meinem Text vor. Es ist ein zauberhaftes Lied".

 

Mit ihrem Titel " Wer hat meine Zeit gefunden?" ist die 19-jährige Schülerin der Neuling unter den sieben Textdichtern, die Udos neue Lieder für seine Langspielplatte geschrieben haben. Sie wird in 14 Tagen erscheinen. Titel: "Zeig mir den Platz an der Sonne".

 

Für Brigitte Gerwens erfüllt sich damit nicht nur der Traum, für Deutschlands Schlagerstar Nr. 1 ein Lied zu schreiben, es bedeutet für sie ausserdem auch eine beträchtliche Aufbesserung ihrer Kasse.

 

Das Mädchen, das ihr Taschengeld in den Ferien als Zimmermädchen einer Fremden-Pension auf der Insel Juist aufbessert: "Von jeder verkauften Platte bekomme ich fünf Pfennig für meinen Text. Bei den hohen Auflagen, die Udos Platten erzielen, ist das ein gutes Start-Kapital für mein Studium an der Journalistenschule in München, das ich im Herbst beginne."

Udos Prognose muss dem frischgebackenen Schlager-Mädchen wie Musik in den Ohren klingen: "Brigitte ist mein geheimer Tip unter den Lied-Schreibern. Mit ihren Texten kann ich noch manchen Hit machen".





 

Udo hätte Pfarrer werden sollen

 

Prominenter österreichischer Priester attackiert Schlageridol

 

Wegen der Frage, ob Udo Jürgens einen brauchbaren Pfarrer abgeben würde oder nicht und worauf das Geheimnis seines unglaublichen Erfolges zurückzuführen ist, liegen sich zwei prominente Geistliche aus Deutschland und Österreich in den Haaren. Der Deutsche ist evangelische TV-Pfarrer Adolf Sommerauer, der Österreicher ist der katholische Kaplan und frühere Fernseh-Priester Adolf Holl.

 

In einem aufsehenerregenden Buch "Warum nur, warum", das zur Buchmesse erscheinen wird, untersuchen die beiden Geistlichen vom kirchlichen Standpunkt aus die Karriere des Phänomens Udo Jürgens. Ergebnis: Während sich der Bayer Sommerauer freut, dass Udo Millionen Menschen sogar mit religiösen Liedern verzaubert (Beispiel: "Wer ist er"), stellt der österreichische Kaplan in seiner Analyse über "Udo und die Kirche" fest: "Es ist kein Kunststück, fromm zu sein, wenn man bedenkt, dass es Geld einbringt."

 

Der Kaplan sarkastisch weiter: "Udo Jürgens hat einmal gesagt, er habe gearbeitet, er habe geglaubt, er sei berufen, jeder Mensch müsse seinem Leben einen Sinn geben, man müsse die Menschen lieben. - Mit dieser Einstellung könnte aus Herrn Jürgens ein passabler Pfarrer werden - vorausgesetzt, er lässt die Mädchen in Ruhe."

 

Adolf Sommerauer kontert: "Natürlich ist es ein grosses Wort, wenn man sagt, man müsse die Menschen lieben. Aber warum nicht? Man muss sein Herz auf den Tisch legen, damit andere das ihre dazulegen können. Und Udo Jürgens kann das. Soll man ihm das übel nehmen?"

 

Sommerauer über Udo und seine Ausstrahlung: "Ich habe Udo erlebt. Der ganze Kerl riecht förmlich nach Musik. Wenn er auf der Bühne steht, dann ist er so wenig zu bremsen wie ein Reitpferd vor dem Start. Das Publikum spürt diese geballte Kraft, die sich wie jede wirkliche Kraft anderen Menschen mitteilt."

 

Adolf Holl stand erst vor wenigen Wochen im Mittelpunkt einer heftigen Kontroverse. Wegen seines Buches "Jesus in schlechter Gesellschaft" kam er in die Schusslinie des österreichischen Episkopats. Der wiener Kardinal König verlangte von Holl ein Bekenntnis zur "Vaterschaft Gottes". Seinen Stuhl als Fernseh-Priester musste Holl bereits früher räumen, als er öffentlich die Absetzung des Papstes und die Wahl eines neuen Oberhauptes der katholischen Kirche gefordert hatte.